Informationen zur Geschichte und zur aktuellen Lage der Schafzucht im Kaukasus am Beispiel Tuschetien in Georgien
Die Domestizierung der Haustiere begann vor rund 10000 Jahren in der Nachbarregion des Kaukasus in Vorderasien. Die Besiedlung von Tuschetien ist bis mindestens 5000 Jahre vor der Zeitrechnung nachweisbar, wahrscheinlich erheblich länger. Die Schafzucht in Tuschetien existiert somit wahrscheinlich seit Tausenden von Jahren, da Schafe den lebensnotwendigen Bedarf der Menschen an Fleisch, Fett, Milch und Käse sowie Wolle und Leder hervorragend abdeckten. In Tuschetien sind sogar eigene speziell an die Hochgebirgsregion des Kaukasus angepasste Haustierrassen entstanden, allen voran das „Tuschetische Schaf“, das „Tuschetische Pferd“ und die „Tuschetischen Schäferhunde“.
Das Tuschetische Schaf ist verhältnismäßig klein und gedrungen und wiegt etwa 60-70 Kilogramm. Es wird ganzjährig im Freien unter extremen klimatischen Bedingungen gehalten und legt zweimal jährlich die Strecke von 300-400 Kilometern zwischen den Sommerweiden im Großen Kaukasus und den Winterweiden in den südlichen Steppen zurück. Aus der Milch der Schafe, die von Mai bis Juli gemolken werden, wird der berühmte tuschetische „Guda“-Käse hergestellt. Das Fleisch besonders der jungen Schafe ist sehr zart und gilt in der Kaukasusregion als besondere Delikatesse. Traditionelle Georgische Gerichte sind zum Beispiel das Lammragout „Chakapuli“ oder die mit Lammfleisch und Kräutern gefüllten Teigtaschen „Khinkali“.
Die Wolle der Tuschetischen Schafe ist von besonders hoher Qualität. Die Wolle ist weiß, glänzend, stark und weich. Pro Schaf werden etwa 4-5 Kilogramm Wolle geschoren. Die Wolle wird traditionell für Filze verwendet und daraus werden die bekannten kaukasischen Schäferumhänge „Nabadi“ und tuschetische Kopfbedeckungen in verschiedenen Varianten hergestellt. Außerdem wird die Wolle gesponnen und daraus werden Teppiche und Stoffe für Bekleidung und die Haushaltseinrichtung angefertigt.
Das Schaf liefert Nahrung, Wärme und ist ein wichtiges Eigentums- und Tauschmittel, weil die Schäfer über den Verkauf von Schafen im Herbst nach dem Abtrieb in die Ebene an Bargeld gelangen, das sie für die Bezahlung der Ausgaben und den Erhalt der Wirtschaft benötigen.
Eigenheiten der Schafzucht in Tuschetien Georgien heute
Migration der Schafherden seit Jahrhunderten zwischen Tuschetien im Sommer und Shiraki im Winter.
Sommerhalbjahr:
Aufbruch in Shiraki nach Tuschetien um den 1.5. Ankunft in Tuschetien um den 30.5. Im Sommerhalbjahr wachsen die Lämmer schnell auf den saftigen Bergweiden. Die Muttertiere werden bis etwa 15.7. gemolken.
Winterhalbjahr:
Aufbruch in Tuschetien um den 30.9. Ankunft in Shiraki um den 1.11. Im Winterhalbjahr werden von Januar bis März die Lämmer geboren. Jedes Muttertier gebärt 1-2 Lämmer.
Mindestens seit dem 17.Jahrhundert ist die nomadisierende Schafhaltung der Tuschen belegt, als sie Weideland in den südlichen Steppen an der Grenze zu Aserbaidschan von den kachetischen Königen erhielten. Einerseits gab es auf diesen Weideflächen ausreichend Gras im Winter für die Schafherden, andererseits dienten die berühmten tuschetischen Krieger als Schutztruppe und Grenzwächter des georgischen Reiches gegen die aserbaidschanisch-türkischen- und iranischen Nachbarn und Invasoren.
Besonders gegen die konkurrierenden Herden der nomadisierenden Nachbarvölker musste das wertvolle Weideland verteidigt werden. Diese südliche hüglige Steppenregion Georgiens nennt man traditionell „Shiraki“ und sie reicht etwa von Rustawi über David Garedji und Chachuna bis an den Grenzfluss Alazani und schließt den heutigen georgischen Nationalpark Vashlovani mit ein.
In Sowjetzeiten wurde die georgische Schafzucht vereinheitlicht und an sozialistische Planvorgaben angepasst, blieb aber in Grundzügen so erhalten. Pro Brigade rechnete man mit 2500 Schafen, 10 Schäfern und 25 Schäferhunden. In Tuschetien gab es etwa 20 Brigaden und 50000 Schafe.
Mit der Unabhängigkeit Georgiens ab 1991 und dem Zusammenbruch des sowjetischen Wirtschaftssystems setzte eine schwere langanhaltende wirtschaftliche Krise ein, die aber zu einem Aufleben der traditionellen tuschetischen Schafzucht führte. Es war nicht ungewöhnlich, dass nun ehemalige Mathematiklehrer oder arbeitslose Offiziere der Armee als Schafhirten selbständig wurden, um sich eine Existenzgrundlage in der Krise aufzubauen oder weil der Beruf früher in der Familientradition war.
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Georgiens ab der „Rosenrevolution“ 2003 entstehen heute neue moderne Wirtschaftszweige und die Schafzucht als Erwerbsquelle und als Beruf verliert aus einer Vielzahl an Gründen an Attraktivität und nimmt andauernd ab. Es ist für die Schäfer heute sehr schwierig gutes Arbeitspersonal zu finden und ihre Mitarbeiter dauerhaft zu binden. Besonders unattraktiv erscheint der harte und entbehrungsreiche Schäferberuf heute für junge Leute.